Spielende Tellerwäscher und Trainer in Frauenkleidern

Brasilien 1950: Eine WM voller Überraschungen – und ohne Finale. Dafür mit fassungslosen Fans, die nach einer Niederlage das Stadion nicht verlassen wollten. Unsere Zeitreise, Teil II

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By Anton Delchmann & Johannes Rößner
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Schon die Aus­gangs­be­din­gungen waren kompliziert: Fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs machten die politischen Spannungen auch vor dem Fußball nicht Halt. Deutschland und Japan waren aus der FIFA aus­ge­schlossen, viele andere Län­der wollten nicht gegen ihre Feinde aus dem Krieg spielen.

Am Ende blieben nur 13 Teilnehmer übrig. Mann­schaften aus Afrika, Asien und Australien waren nicht dabei.

Absurde Absagen
Weil die FIFA den indischen Spielern verbot, in Fuß­ban­dagen statt Schuhen auf­zu­laufen, verweigerte das Land die Teilnahme.

Auch die Schweiz war kurz davor abzusagen. Brasilien konnte das allerdings gerade noch abwenden, indem man den Schweizern Geld anbot.

Anders als noch 1930 reisten alle euro­päischen Teams mit dem Flugzeug nach Brasilien – bis auf Italien.

Die Squadra Azzurra wollte wegen eines vor­an­ge­gan­genen Flugzeugunglücks keinen Flieger mehr be­stei­gen und nahm stattdessen das Schiff.

An guter Verpflegung mangelte es auf der Reise offenbar nicht: Nach zwei Wochen kamen die itali­e­ni­schen Spieler mit ein paar Kilo mehr auf den Hüften in Südamerika an.

In Brasilien herrschte große Euphorie rund um die WM. Erstmals wurde das Turnier kommerziell vermarktet: So gab es neben Fanartikeln auch Werbe­botschaften im Radio und auf Flug­zeug­bannern.

Extra für die WM wurde in Rio das damals größte Stadion der Welt gebaut. Das neue Maracanã bot Platz für 175.000 Zuschauer:innen.

Das schien dennoch nicht genug zu sein. Der Ansturm auf das Eröffnungs­spiel war riesig. Auch ohne Ticket kletterten die Menschen über Zäune und Geländer des noch nicht ganz fertig­gestellten Stadions, um das Spiel irgend­wie sehen zu können.

Eine erste Über­raschung gab es im Spiel zwischen England und den USA. Der haushohe Favorit England verlor gegen die US-ame­ri­ka­nische Aus­wahl aus Teller­wäschern und Schnaps­lieferanten mit 0:1.

In England konnten sie das Ergebnis kaum glauben. Angeblich vermeldete eine Zeitung sogar einen 10:1 Sieg der Engländer, da man das 0:1 für einen Übermittlungsfehler hielt.

Es war einfach nicht das Turnier des englischen Teams. Auch gegen Spanien verlor es mit 0:1. Die Spanier griffen allerdings auch auf unfaire Mittel zurück: Da es noch keine Ball­jungen gab, wurde der Ball gezielt ins Aus geschossen, um auf Zeit zu spielen.

Das Turnier 1950 ist die einzige WM, bei der kein Finale aus­gespielt wur­de. Statt­dessen traten die Sieger der Vor­runde – Bra­silien, Uruguay, Schweden und Spanien – in der Final­runde gegeneinander an. Jeder spielte gegen jeden. 

Das Spiel Brasilien gegen Uruguay kam jedoch einem Finale gleich: Die Uruguayer brauchten einen Sieg, der Seleção hätte ein Remis für den Final­gruppensieg gereicht.

Vor einer Kulisse von etwa 200.000 Fans stand es bis zur 79. Minute 1:1. Doch dann war der Uruguayer Alcides Ghiggia schneller als der Verteidiger der gegnerischen Mannschaft und erzielte den Siegtreffer für Uruguay.

Die Enttäuschung im Mara­canã war riesig. Augen­zeugen berichteten von einem »tosenden Schweigen« auf den Rängen. Noch Stunden nach Abpfiff saßen zehn­tausende fassungs­lose brasilia­nische Fans im Stadion.

Der Enttäuschung folgte Wut auf den brasilianischen Trainer. Flávio Costa flüchtete daher nach dem Spiel getarnt in Frauen­kleidern aus dem Stadion.

Auch die Seleção wechselte nach dem Turnier die Outfits. Statt in Weiß spielt man seit­dem in den unver­wechsel­baren gelb-grün-blauen Tri­kots. Bis heute konnte Bra­silien damit fünf WM-Titel gewinnen.

Das Trauma von der WM 1950 blieb jedoch bis heute in den Köpfen der Brasilianer.

64 Jahre später ereignete sich dann das nächste Drama, als Brasilien der deutschen Nationalmannschaft im WM Halbfinale 2014 mit 7:1 unter­lag – ausgerechnet wieder im Maracanã.

Credits

Grafik und Animation: Anton Delchmann
Text und Recherche: Johannes Rößner

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